Kulturhaltestelle Dialoge
März 2025 mit Marianne Schroeder
Wie entstand die Idee, ein Festival zu Ehren von Giacinto Scelsi zu gründen?
Die Idee entstand in der Wohnung von Scelsi in Rom, wo ich im Juni 2013 mit Rohan de Saram übte. Wir spielten Scelsi, Xenakis und den ersten Satz der Arpeggione-Sonate von Schubert. Dort, wo Scelsi früher auf dem Sofa saß und ich am Klavier spielte. Es war heiß, Juni... Plötzlich kam der Gedanke: „Jetzt mache ich ein Festival!“ Im Winter zuvor hatte ich bereits drei Abende über Scelsi veranstaltet und mir damals einen riesengroßen Kristall-Gong gekauft. Ich dachte: Wenn ich schon einen Kristall-Gong kaufe, kann ich auch ein Festival machen. Aber die eigentliche Idee kam dann im Juni.
Am 8. Januar 2014 fand das erste Eröffnungskonzert statt. Es war sagenhaft. Ich hatte im Gare du Nord angerufen und gefragt, ob drei bis vier Tage frei wären. Desirée Meiser sagte: „Nein, es ist belegt für ein Stockhausen-Festival.“ Einige Tage später hieß es dann, dass das Festival abgesagt wurde – und so fand das Giacinto Scelsi Festival zum ersten Mal statt.
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Was hat dich damals besonders an seiner Musik und seiner Person fasziniert?
Eine lange Geschichte, die 1978 begann. Ich hörte in Basel ein Konzert mit Scelsis Musik, dirigiert von Jürg Wittenbach. Er hat Scelsi immer gerne dirigiert. Michiko Hirayama sang – ein ganzer Scelsi-Abend. Ich hörte das und war unglaublich fasziniert. „Oh, wäre es einmal so, dass ich reif genug wäre, diese Musik zu spielen!“
Paul Zukofski kam nach Basel und sagte: „Du musst!“ Aber ich fühlte mich nicht bereit. 1984 war ich zum zweiten Mal als Studentin in Darmstadt. Morton Feldman war auch da. Wir spielten ein Stück von Pauline Oliveros. Plötzlich rief Feldman: „Was war denn das!!“ Und dann kam die Einsicht: Ich muss Scelsi üben. Wer kann mir Noten geben?
Es war eine ganz besondere Ausstrahlung da – man bekam sofort Reaktionen. Einen Monat später rief ich Scelsi an. Er sagte: „Ja, wann kommen Sie? Morgen? In einer Woche?“ Drei Wochen später war ich in Rom. Er war erkältet und sagte ab. 1985, vier Jahre später, war ich dann wieder dort.
Er hatte diese unglaubliche Ausstrahlung. Er brachte einen dazu, sich sofort für einen Weg zu entscheiden. Er forderte nichts – alle anderen forderten immer etwas. Und doch begann man sofort, wie eine Wühlmaus zu graben. Seine Musik, die Kraft dieser Musik, war für mich unmittelbar spürbar. Sie hat mich gepackt – ganz egal, in welcher Besetzung. Scelsi wollte, dass man das Kreieren erlebt, sich selbst erlebt!
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Welchen besonderen Moment oder welche Begegnung verbindest du persönlich mit Scelsi oder seinem Werk? Was macht diesen Moment für dich so eindrücklich?
1987 wurde ich von Nueva Consonanza eingeladen, im großen Saal der RAI in Rom einen Scelsi-Abend zu spielen. Es waren ausschließlich Klavierabende. Vier Tage vor mir war Karlheinz Stockhausen dort, um einem Klavierabend mit seinen Werken beizuwohnen.
Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits bei Scelsi angekommen. Ich schrieb an Stockhausen: „Aber jetzt bin ich bei Scelsi!“ Er antwortete: „Aber natürlich sind Sie bei ihm.“ Und ich ging mit Scelsi.
Ich habe die beiden einander vorgestellt – den kleinen Scelsi mit seinen 1,55 m und den riesigen Stockhausen mit seinen 1,90 m. Stockhausen war eine ganz andere Welt: sehr stark mit Leistung verbunden. Eine völlig andere Welt als die von Scelsi.
Warum hast du dich entschieden, das Festival in Basel zu etablieren? Was verbindet dich persönlich mit der Stadt?
Basel war die Stadt, in der man mir einen Lehrer empfohlen hatte. Der Komponist Peter Mieg hatte sich für mich eingesetzt. Ich ging jede Woche nach Basel zum Klavierunterricht, später dann an die Musikakademie. Dort habe ich mir Stipendien erspielt, dann ging ich nach Hamburg. Nach meinem Abschluss in Hamburg wurde ich gefragt, ob ich in Basel unterrichten würde. So kam ich 1972 zurück – und da bin ich immer noch.
Sandor Végh war zu dieser Zeit in Basel, und viele weitere herausragende Persönlichkeiten. Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen gaben dort Kurse, Paul Sacher war noch sehr aktiv – die ganze neue Musik war in der Stadt präsent! Das Musikleben in dieser Zeit war außerordentlich lebendig!
Welche Bedeutung hat Basel für das Festival? Was macht die Stadt zum idealen Ort für Scelsis Musik und seine Ideen?
Scelsi war ein unabhängiger Geist. Wenn er Konzerte organisierte, ließ er nie seine eigene Musik aufführen. In Basel war die Neue Musik durch Paul Sacher ein fester Bestandteil der Stadt. Es gab eine solche Tradition – das fand man nirgendwo sonst so wie in Basel. Paul Sacher hatte mit 19 ein Orchester gegründet, wurde später unermesslich reich und unterstützte die wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Es entspricht der Tradition dieser Stadt, ein Festival für einen bedeutenden Komponisten zu gründen. Die größten Komponisten waren damals in Basel präsent, die Stadt war ein internationaler Magnet für die Avantgarde.
Wie bereichert das Festival die Basler Kulturszene? Warum sollte Basel stolz auf dieses Festival sein?
Basel hat unglaubliche Interpretinnen und Interpreten hervorgebracht: Hansheinz Schneeberger, das Végh-Quartett, Heinz Holliger, Klaus Huber, Ursula Hänggi … Diese Persönlichkeiten waren sehr stark, und einige haben sich aktiv engagiert. Das verbindende Element, das von Scelsi ausgeht, setzt sich fort. Das Festival führt die Arbeit fort, die in den Zeiten von Paul Sacher eine so grosse Ausstrahlung hatte, und hat in seiner 10-jährigen Existenz dazu beigetragen, herausragende Persönlichkeiten aus der Welt der Neuen Musik nach Basel zu bringen.
Gibt es besondere Orte in Basel, die für dich oder für das Festival symbolische Bedeutung haben?
Gare du Nord – dort fand das erste Konzert statt. Es war ein Zentrum für neue und experimentelle Musik mit einer besonderen, pionierhaften Geschichte. Auch die Kunsthalle, all diese Orte, die große Improvisatoren eingeladen hatten. So viele herausragende Persönlichkeiten der Musik waren in der Kunsthalle zu Gast.
Und dann Don Bosco – eine umgebaute Kirche mit einer sehr schnellen Akustik, die zur Musik von Scelsi hervorragend passt. Ein Raum, der klingt, ein Raum, der nicht geprägt ist von der ganzen klassischen Musik, die in den üblichen Konzertsälen zu hören ist. Hier betritt man den Raum – und ist sofort jemand. Solche Orte gibt es in Basel einfach!
Was waren die größten Herausforderungen in der Anfangszeit des Festivals, und wie hast du sie gemeistert? Gibt es eine Geschichte, die zeigt, wie das Festival über sich hinausgewachsen ist?
Ich spielte fast in jedem Konzert mit und musste später lernen, dass es zu viel war. Das Buch von Gabriel Josipovici über Scelsi, Unendlichkeit. Die Geschichte eines Augenblicks..., war damals gerade erschienen, es wurde ein Bestseller. Und entgegen aller Erwartungen kam Josipovici nach Basel! Es haben sich unglaubliche Dinge zusammengefügt!
Wie hat sich das Festival über die Jahre entwickelt? Was waren für dich die wichtigsten Meilensteine oder Highlights?
Jedes Mal kam es zu einem Höhepunkt, der sich wie zufällig ergab. Zum Beispiel das erste Konzert mit Michiko Hirayama, das zugleich das letzte ihrer Karriere war. Es gab immer eine Verbindung mit wichtigen Komponisten, diese haben wir versucht, in den verschiedenen Festivalausgaben ins Licht zu bringen – zu Morton Feldman etwa oder Karlheinz Stockhausen, aber auch zu Künstlern wie Jackson Pollock oder Schriftstellern wie Henri Michaux. Und zur gleichen Zeit wie das Festival gab es in der Stadt Ausstellungen über diese Künstler.
Wie spiegelt sich Giacinto Scelsis Musik und seine Philosophie in der Identität des Festivals wider? Wie trägst du seine Ideen – etwa die Offenheit gegenüber Improvisation und anderen Kulturen – weiter?
Ich kümmere mich sehr um seine Gedichte – er hat auf Französisch gedichtet. Manche sagen, sie seien unmöglich zu lesen. Aber sie tragen alle alte Weisheiten in sich, etwa aus der indischen Kultur. Dass ich mich mit diesen Gedichten befasse, ist nicht zufällig. Es gibt eine außergewöhnliche Spiritualität darin, die in den 60er-Jahren bekannt wurde. Die Verbundenheit zwischen uralter Philosophie und der Auffassung, Klänge nicht in Formen zu erfassen, sondern sich in den Klängen aufzulösen.
Den Klang so erfassen, als wäre er ein Samen – und vor den eigenen Augen wächst eine Pflanze. Es zeigt, dass sich ein Klang entfaltet. Nicht: „Du machst zuerst eine Form, und der Klang verbreitet sich durch diese Form.“ Sondern: „Die Form entsteht – und du nimmst sie an.“
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Was möchtest du den Menschen durch das Festival vermitteln? Was sollen sie mitnehmen, wenn sie ein Konzert besuchen?
Viele sagen: „Ich habe so eine Energie bekommen, die ich tagelang spürte. Die Konzerte berührten mich sehr.“ Viele wurden durch die Musik sehr berührt, ein Klang vibriert wie ein Echo in dir! Die Spiritualität, die durch diese Musik vermittelt wird, ist echt. Man kann durch diese Musik ein Zentrum in sich selbst empfinden. Man kann sogar Macht empfinden, aber nicht dadurch, dass man eine Ohrfeige gibt, sondern durch diese Mitte, die man in sich selbst spürt.
Was bedeutet das Festival für die Verbindung zwischen Künstlern, Publikum und der Stadt Basel?
Die Verbindung ist da! Eine elektrisierende Verbindung! Alle kommen auf eine Hochleistung, das Publikum macht mit, sogar bis in die späten Stunden. Das Publikum wird in diesen Bann gezogen!
Warum ist das Festival auch für Unternehmen und Sponsoren ein bedeutendes Projekt? Welche Werte und Botschaften vermittelt es, die für sie interessant sein könnten?
Die Musik verbindet! So, dass deine Ohren anders aufnehmen! Du sitzt im Konzert, weißt nicht, was kommt, deine Sinne entfalten sich viel mehr als sonst! Das, was dir wichtig ist, was in dir selbst entsteht, was du vielleicht gar nicht formulieren konntest – das erfährst du. Die Musiker und Zuhörer erleben zum ersten Mal etwas, was sie noch nicht kannten. Menschen lernen sich selbst kennen oder sind durch ein Stück oder ein Erlebnis plötzlich weiter. Sie finden zu sich oder entwickeln sich weiter.​ "Du entdeckst dich! Was hast du gesehen?"
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Inwiefern trägt das Festival zur Vielfalt und Innovationskraft der Kultur in Basel bei? Warum ist es wichtig, solche besonderen Projekte zu unterstützen?
Das Scelsi Festival verbindet. Es ist ein Ort der Entdeckung – mit einem Niveau, das seinesgleichen sucht. Ein Ereignis, das näher an anderen künstlerischen Ausdrucksformen steht, fast mehr als an anderen Musikveranstaltungen. Eine Veranstaltung, bei der man einen ähnlichen Widerstand spürt wie in der Kunst.
Welche Rolle spielen Partnerschaften und Sponsoring für die Weiterentwicklung des Festivals? Welche Art von Kooperationen wünschst du dir für die Zukunft?
Es muss die Offenheit für das Erforschen und das Spontane vorhanden sein.
Wie siehst du die Zukunft des Festivals? Welche Ziele und Visionen verfolgst du?
Ich hätte gerne ein Orchester, das große Werke aufführt! Jedes Jahr! Und dass man auch genug Proben dafür kriegt. Speziell dadurch, dass die Musik von Scelsi so besonders ist, wäre es schön, wenn das Festival sich als Ort etabliert, wo die Kultur des Probens besonders gepflegt wird.
Heutzutage wird das Geld immer knapper, und es ist gang und gäbe, dass Aufführungen nur mit der absolut notwendigen Menge an Proben gespielt werden. Das fördert aber Oberflächlichkeit. Wir wollen dagegen ankämpfen und uns für das tiefgründige Ausarbeiten der Werke in ihrem ganzen Nuancenreichtum einsetzen.
Was wünschst du dir von der Stadt Basel, vom Publikum und von möglichen Förderern für die kommenden Jahre?
Dass sich das Publikum mehr durch die Anziehungskraft des Festivals erfassen lässt. Dass auch jüngere Menschen eine Chance erfahren, durch diese Kraft angezogen zu werden. Mehr Teilahmefähigkeit.
Wenn du in einem Satz sagen müsstest, was das Scelsi Festival so besonders macht – was wäre das?
Du wirst von dir selbst angezogen, entdeckst die Kraft, die du hast.
Gibt es eine Geschichte oder Anekdote aus den letzten Jahren, die das Herz des Festivals besonders gut beschreibt?
Michiko Hirayama sagte zu, kam im Rollstuhl in einem Flug von EasyJet und mit ihrem Pelzmantel. Sie hatte Bronchitis. „Ich brauche eine Flasche Whisky und eine Wärmeflasche“, sagte sie. Als erste Künstlerin des Festivals übernachtete Michiko in der Pension La Vie en Rose. Mit 90 Jahren kam sie in Stöckelschuhen und probte trotz Bronchitis so intensiv, dass alle ihre Kollegen erschöpft waren. Sie ist über sich selbst hinausgewachsen – in diesem hohen Alter!
Was bedeutet dir persönlich dieses Festival – und warum sollte es auch anderen am Herzen liegen?
Jeder kann durch die Erfahrungen im Festival seine eigene Unmöglichkeit überwinden. Diese Unmöglichkeit in die Klauen zu packen – immer wieder, jedes Jahr. Man möchte zuerst gar nicht, aber es entsteht. Und jedes Mal ist es eine neue Gelegenheit, über sich selbst hinauszuwachsen. Dieses Potenzial jedes Mal neu zu entfachen – das erzeugt eine Energie, die kommunikativ ist! Jeder kennt solche Momente. Und genau das möchte ich tun, also tue ich es. Basel ist ein Gong! Eine Metapher für die Stadt Basel, in der an jeder Ecke Zeitzeugen der reichen Geschichte der Stadt rund um die zeitgenössische Musik zu finden sind. Und der Gong war eines der Lieblingsinstrumente von Scelsi.