Kulturhaltestelle Dialoge
November 2025 mit Nicolas Namoradze
Was hat dich dazu inspiriert, achtsame „Deep-Listening“-Konzertformate zu entwickeln?
Mein ursprüngliches Interesse an mentalen Fähigkeiten und Achtsamkeit entstand tatsächlich aus ihrer Anwendung auf das Performen, nicht auf das Zuhören. Mich hat immer fasziniert, wie Spitzensportler und -künstler das mentale Spiel meistern, und im Laufe der Jahre habe ich Elemente der Sportpsychologie in meine Arbeit integriert. Während der Pandemie, als ich mit der Streaming-Plattform IDAGIO an einem Artist-Feature arbeitete, entstand die Idee, einige dieser Ansätze mit ihrer Community zu teilen. Da ihr Publikum aber hauptsächlich aus Hörer*innen und nicht aus Ausführenden besteht, begann ich, diese Prinzipien auf das Zuhören zu übertragen und erkannte schnell das große Potenzial des Konzepts. Bald zeigte sich, dass dieser Ansatz auch in Live-Konzerten hervorragend funktioniert, indem ich gespielte Werke mit Gedankenexperimenten, Gesprächen und angeleiteten Konzentrationsübungen verbinde.
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Gibt es Übungen oder Ansätze, die du als besonders wirkungsvoll empfindest?
Das hängt von der Situation ab, aber einige Übungen erweisen sich immer wieder als hilfreich, vor allem jene, die die Aufmerksamkeit schärfen. Beispielsweise kann es, John Cage folgend, unglaublich effektiv sein, ein paar Minuten der „Stille“ eines Saals zu lauschen, um das Gehör vor dem nächsten Stück neu zu fokussieren.
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Wie hat deine Forschung in Kognitionswissenschaft und musikalischer Wahrnehmung dein Spielen beeinflusst?
Der Einfluss zeigt sich weniger direkt im Spielen selbst, sondern eher in meinem Übeprozess. Ein tieferes Verständnis davon, wie das Gehirn am effektivsten lernt, hat dazu geführt, dass ich bestimmte Prinzipien in die Struktur und das Tempo meiner Arbeit integriere.
Gab es eine Erkenntnis aus deiner akademischen Arbeit, die deinen künstlerischen Ansatz verändert hat?
Eine wichtige Erkenntnis stammt aus meinen Studien über den späten Ligeti. Ich verstand präziser, wie zentral die Kalibrierung bestimmter tonaler Bereiche für die dramatische Erzählung seiner Musik ist. Dieses Verständnis beeinflusst maßgeblich, wie ich die Übergänge zwischen diesen wechselnden Feldern farblich und artikulatorisch gestalte.
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Wie greifen deine Identitäten als Pianist und Komponist ineinander?
Für mich sind diese beiden Identitäten eng miteinander verwoben, im Grunde zwei Seiten derselben Medaille. Historisch gesehen haben Interpretinnen fast immer auch komponiert und umgekehrt; die strikte Trennung ist ein relativ modernes Phänomen. Schon als Kind am Klavier war es für mich ganz natürlich, eigene musikalische Ideen aufzuschreiben. Das Komponieren war für mich eine der wichtigsten Schulen als Pianist und das Klavierspiel einer der größten Einflüsse auf mein Schreiben. Das Schreiben hat mich unter anderem gelehrt, wie schwierig es ist, Intentionen präzise auf dem Papier festzuhalten, und erinnert uns als Interpretinnen daran, zwischen den Zeilen zu lesen. Und das Klavierspiel prägt ständig, wie ich schreibe, besonders in Bezug auf Technik und die körperliche Dimension des Musizierens.
Komponierst du mit bestimmten Interpret*innen oder Ideen im Kopf?
Sehr oft. Häufig schreibe ich für mich selbst, das fühlt sich sehr natürlich an. Meist beginne ich mit einer bestimmten Idee oder einem konzeptuellen Funken, den ich lange innerlich erkunde, bevor ich mich den konkreten Noten widme.
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Hast du bestimmte Methoden, um an Klang, Farbe und Artikulation zu arbeiten?
Ja, absolut. Viele dieser Methoden wurden mir von herausragenden Lehrerinnen und Mentorinnen vermittelt; andere habe ich im Laufe der Jahre selbst entwickelt. Gemeinsam bilden sie einen Ansatz, den ich heute auch an meine Studierenden weitergebe.
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Welche Komponist*innen oder Werke begleiten dich derzeit besonders?
Es sind viele: Ich arbeite aktuell an mehreren Recital-Programmen und zahlreichen Klavierkonzerten. Doch zuletzt ist Beethovens monumentale Hammerklavier-Sonate für mich zu einer Art Mittelpunkt geworden.
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Wenn du das klassische Konzerterlebnis neu erfinden könntest, wie sähe es aus?
Ich denke, wir erleben bereits eine faszinierende Vielfalt neuer Ansätze, innovative Programme, unterschiedliche Konzertlängen, ungewöhnliche Spielorte und sogar multimediale Elemente. Es ist aufregend, an dieser Entwicklung mitzuwirken und zu sehen, wie enthusiastisch das Publikum darauf reagiert.
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Wie reagieren jüngere Zuhörer*innen auf deine innovativen Konzepte?
Sehr positiv. Veranstalterinnen berichten oft, dass diese Konzerte ein deutlich jüngeres Publikum anziehen als üblich. Ich habe festgestellt, dass experimentelle Formate ein hervorragender Weg sind, neue Hörerinnen in den Konzertsaal zu bringen.
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Wie haben die verschiedenen kulturellen Welten, in denen du aufgewachsen bist, deine künstlerische Identität geprägt?
Ich empfinde es als großes Glück, so vielfältige kulturelle Einflüsse erfahren zu haben, geboren in Georgien, aufgewachsen in Ungarn, ausgebildet in Europa und später in den USA. Heute in New York zu leben, an einem Schnittpunkt so vieler künstlerischer Kulturen, fühlt sich vollkommen natürlich an. Ich habe mich immer als Weltbürger verstanden, und mein musikalischer Weg bestand darin, verschiedenste Ideen und Ansätze aufzunehmen, die meine Stimme bis heute formen.
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Gab es einen Rat eines Mentors, der dir besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Es gibt viele, aber einer beschäftigt mich besonders: ein Gespräch mit Zoltán Kocsis. Er betonte die Bedeutung, hinter jeder musikalischen Entscheidung ein klares Warum zu haben. Kohärenz zu schaffen und Willkür zu vermeiden. Dieses Prinzip begleitet mich seither sehr bewusst.
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Welche Projekte begeistern dich im Moment besonders?
Es gibt vieles, worauf ich mich im kommenden Jahr freue. Wenn ich eines hervorheben müsste, wäre es eine neue Zusammenarbeit mit dem wunderbaren Label Ondine. Wir haben zahlreiche spannende Projekte vor uns, und ich kann es kaum erwarten, im Frühjahr das erste Album aufzunehmen mit Beethovens Hammerklavier im Zentrum.
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Gibt es neue Kooperationen oder interdisziplinäre Richtungen, die du gerne erkunden würdest?
Vor Kurzem habe ich beim Verbier Festival das Neurorecital, ein neues Konzertformat, uraufgeführt. Es ist Teil eines größeren Projekts namens Neuropiano, das ich gemeinsam mit mehreren Partnern entwickle, darunter Steinway und die University of California, San Francisco, um die Neurowissenschaft des Klavierspiels zu erforschen. Dieses faszinierende Vorhaben hat viele neue Möglichkeiten eröffnet, und ich bin gespannt, wohin es führt.
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Vielen Dank für das Feature, es macht mir Freude, Teil dieses Gesprächs zu sein. Ich habe sehr schöne Erinnerungen an unsere Zusammenarbeit und freue mich schon sehr auf ein Wiedersehen :)
Nicolas
